Bei mir läutet es Sturm.
Im Hausflur höre ich schweres Atmen und vor meiner Tür erscheint meine Freundin Doris. Kreidebleich.
„Um Gottes Willen, ist Dir etwas passiert?“
Ich bin entsetzt und vermute Überfall, Raub oder Morddrohung.
Nicht mal einen Schnaps habe ich im Haus! Ich beschließe, gleich morgen so eine Falsche für Notfälle in mein Regal zu stellen.
„Habe ich bei Dir meinen Lottoschein liegen gelassen?“ Sie sieht sich hektisch um, die Augen weit aufgerissen.
Typisch Doris. Aber ihre spezielle Ordnung hat ja System, wie sie immer behauptet. Noch nie hat sie etwas nicht gefunden.
„Nein, bei mir ist kein fremder Lottoschein.“
„Was heißt hier fremder? Ich denke an meinen!!“ Sie wirkt ärgerlich.
„Nein, Deiner ist auch nicht hier.“
„Du hast ja noch gar nicht nachgesehen!“ faucht sie mich an.
Ich gehe also durch meine Wohnung, sehe unter und in alle Bücher, unter und auf alle Sessel, unter den Teppich, in die Kochtöpfe, eben da, wo Doris bei sich schon mal Dinge lagert. Vielleicht schien ihr meine Wohnung diesmal sicherer.
Kein Lottoschein.
„Ich habe ihn verloren.“
Diese vier kleinen Worte, dramatisch langsam und leise ausgesprochen, signalisieren mir die ganze Sinnlosigkeit ihres Daseins und den sicheren Untergang ihrer Existenz.
Ich bin betroffen, nein entsetzt. Doris starrt mich an. Sie weint nicht, sie jammert nicht. Sie starrt mich einfach apathisch an.
Meine Balkontür steht offen. Ich hechte hin und verstelle ihr vorsorglich den Weg. Soll ich jemanden anrufen? Bruder? Mutter? Arzt? Meine Augen suchen das Telefon.
„Johanna, es ist aus! Meine fünf Richtigen hat jetzt jemand anders,“ ihre Stimme schnappt über. Sie springt auf, stürzt auf mich zu und schüttelt mich an der Schulter. „Fünf, wie viel ist das????“, kreischt sie.
Ist sie total verrückt geworden? Verliert so einen Schein!!
„Deine blöde Ordnung, das hast Du jetzt davon!“ Ich mache mich von ihr los. „Komm, wir gehen noch mal zu Dir rüber und suchen richtig.“
Nachdem ich alle ihre Kochtöpfe inspiziert, im Kühlschrank rumgefingert, hinter dem Badspiegel, unter dem Bett, auf den Schränken, in ihren 60 paar Schuhen jeden Winkel durchsucht habe, denke ich mir, das war es dann wohl.
Kein Lottoschein.
Doris hetzt noch verzweifelt durch den Hausflur und kommt noch auf die glorreiche Idee, alle Nachbarn zu befragen.
Irgendwann sitzt sie an ihrem Tisch, stützt ihr Kinn auf die Hände und schüttelt fassungslos den Kopf.
„Wozu hättest Du denn das viele Geld so dringend gebraucht?“ versuche ich einen Ansatz von Trost, so nach dem Motto „Geld ist doch nur schnöder Mammon, im Leben gibt es Wichtigeres“.
Sie jault auf.
Plötzlich sehe ich unter ein paar Orangen einen kleinen weißen Zipfel Papier mit Teilen von rot eingefassten Kästchen. Mit spitzen Fingern zupfe ich zwei Zettel unter den Orangen raus.
Doris reißt mir beides aus der Hand. Voller Glück umarmt sie mich, küßt mir beide Wangen und fegt durch ihre Wohnung.
„Wo ist denn diese blöde Süddeutsche jetzt??“ Sie stolpert über einige Zeitschriften-Haufen und lose-Blatt-Sammlungen in ihr Arbeitszimmer, kämpft sich durch Druckerpapier-Türme bis hin zum PC, schmeißt ihn an und wartet mit zittrigen Fingern, bis er endlich hochgefahren ist.
Dann der großartige Moment: die Lottozahlen prangen auf dem Bildschirm.
Ein Schrei. „Neeeeiiiin!“
Ist es so viel Geld?? Ich stürme hin, nein mehr falle ich in ihr Arbeitszimmer. Doris starrt auf den Bildschirm.
„Und?“
Falscher Alarm.
„Naja … aber es hätte ja sein können!“
Manchmal geht sie mir ganz schön auf die Nerven.